Man merkt, dass die WM in knapp 1,5 Monaten beginnt.
Verschwitzte europäische Journalisten jagen durch Rios Straßen, um verzweifelt
irgendwelche Missstände aufzudecken. Mit aller Macht wird die sensationelle
Schlagzeile gesucht, die Ländern, wie Brasilien das Recht der WM-Austragung
absprechen soll und die WM am besten wieder nach Deutschland verlegt. Da
schwirren Killer-Mücken durch die Luft, Schlangen und Kaimane erscheinen vor
den Stadien und Krieg herrscht auf den Straßen von Rio. Eine „Terrormeldung“
nach der anderen. Leute, lassen wir mal dir Kirche im Dorf!
Hier werden die immer gleichen Stereotypen bedient:
Brasilien ein tropisches Land zwischen Gewalt und Sex (denn die Bikinimädchen
werden auch nicht vergessen), zwischen Gefahr und Vergnügen. Da dürfen eben
auch die Moskitos, die Tropenkrankheiten übertragen, nicht fehlen. Das ist
genauso, wie wenn wir Deutschen ständig mit dem Nazivorurteil leben müssen. Wir
wissen doch ganz genau, wie das nervt. Ich glaube, es ist an der Zeit etwas
Grundsätzliches zu sagen.
Veranstalter von Sportgroßereignissen versprechen
den Bewohnern des gewünschten Standortes immer ein Vermächtnis für alle. Das
ist meist so vollmundig, dass dadurch eine sehr hohe Erwartungshaltung wächst.
Man hat bei diesen Versprechen das Gefühl, dass eine WM die Kraft hätte ein
Land komplett zu verändern. Ich muss enttäuschen: die WM hat diese Kraft nicht!
Deutschland hatte schon vor der WM ein ICE- und ein
Autobahnnetz und Städte, wie Hamburg, Nürnberg oder Leverkusen hatten ihre
Stadien schon lang vor der WM erbaut. Die Infrastrukturellen Bauarbeiten wären
sowieso passiert. In Deutschland hat eine deutsche WM mit deutschen
Rahmenbedingungen stattgefunden, in Südafrika eine südafrikanische und in
Brasilien wird es eine brasilianische.
Das bedeutet auch, dass man mit den brasilianischen
Rahmenbedingungen fertig werden muss. Jedes Jahr zwischen Januar und Mai kämpft
Brasilien mit einer Dengueepidemie, da in dieser heißen Regenzeit sich die
Moskitos, die die Viren übertragen am besten vermehren. Diese Mücken fliegen in
Brasilien einfach so herum und sind schwer zu bekämpfen. Eine langfristige
Maßnahme wäre eine Investition in medizinische Forschungsprogramme und nicht in
die WM.
Kaimane und Schlangen gibt es auch immer, aber
selten im Fußballstadion. Außerdem sind sie nicht wirklich ein Problem. Im
Gegenteil, es ist sehr schön diese Natur zu haben. Das hat nichts mit der WM zu
tun.
Den Bau von Straßen und Zuglinien an eine WM zu
koppeln ist absurd. Ein Staat sollte immer versuchen das Transportsystem zu
verbessern. Das Transportsystem ist nicht nur für die WM-Touristen da, sondern
in erster Linie für die Einheimischen. Brasilianer stehen oft im Stau, nicht
nur bei der WM.
Schließlich berichtet man im Moment verstärkt über
gewaltsame Zwischefälle in brasilianischen Elendsvierteln, wie diese Woche mit
dem Tod des Tänzers in der Favela Pavão-Pavãzinho wieder geschehen. Davor gab
es die Räumung eines kürzlich besetzten Fabrikareals und die Besetzung der
Favela Maré durch Befriedungstruppen. Diese Zwischenfälle führen oft zu Protestaktionen
der Bewohner, aufgrund der brutalen Einsatzart der brasilianischen Polizei. Ich
habe bemerkt, dass deutsche Zeitungen gerne eine Verbindung zwischen den
Protesten des letzten Jahres und den aktuellen Protesten herstellen. Ich muss
enttäuschen: eines hat mit dem anderen nichts oder wenig zu tun.
Die Zwischenfälle haben auch nur bedingt mit der WM
zu tun. So schlimm es ist, aber Schießereien und Polizeigewalt ist nichts Neues
in Brasilien und wird auch nach der WM existieren. Jetzt wird es für ein paar
Monate im Ausland bemerkt, aber dann wieder vergessen. Wer hier wirklich was
tun will müsste langfristig in die Ausbildung und Ausrüstung der Polizei
investieren.
Die aktuellen Unruhen sind die ganz normalen
Schikanen gegen untere Bevölkerungsschichten. Die aber durchaus, als eine Art
Warnschuss, vor Sportereignissen zunehmen. So war das schon vor den
Panamerikanischen Spielen 2007. Die Demos 2013 hingegen waren von Studenten der
Mittelschicht und ihren Themen bestimmt. Diese haben tatsächlich das Sportereignis
für ihre Anliegen genutzt. Die Bevölkerung in der Favela hingegen wird von der
Polizei schikaniert. Wir reden hier von zwei völlig unterschiedlichen
Situationen.
2013 hatte auch die Mittelschicht das Vergnügen von
der Polizei schikaniert zu werden. Deshalb reflektiert heute die brasilianische
Gesellschaft mehr darüber, welche Polizei man haben will und welche Strategie
und Aufgaben sie haben sollte. Wenn da was in Gang kommt, dann würde
tatsächlich ein Vermächtnis für Brasilien bleiben. Das wäre ein langfristiger
Gewinn. Aber solche Veränderungen geschehen in kleinen Schritten und nicht in
sieben Jahren WM-Vorbereitung.
Somit ist das einzige Vermächtnis, das ein
Gastgeberland erarbeiten kann, ein Imagegewinn, also eine Frage des Marketings.
Hier hat Deutschland, denke ich, sehr gut gearbeitet. Ich habe das Gefühl, dass
das Image Deutschland mit dem „Sommermärchen“ tatsächlich verbessert wurde. Der
Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hatte Erfolg. Er hatte aber auch Erfolg,
weil sich die Gäste darauf eingelassen haben. Jetzt ist es auch an der Zeit,
dass wir uns darauf einlassen Gäste in Brasilien zu sein.
Brasilien arbeitet viel mit seinem Image eines
freundlichen und feierfreudigen Landes, deshalb der Slogan: „Alle in einem
Rhythmus“. Jetzt müssen wir in den Rhythmus einstimmen. Damit will ich die
Probleme nicht herunterspielen. Ich will nur klar machen, dass die Probleme
nichts mit der WM zu tun haben. Wer helfen will, muss langfristig und weit über
die WM hinaus helfen.
Man fragt sich manchmal, was die Kommentare
erwarten: Das Brasilien die Sicherheit und die Party der Fans der 31
Gastmannschaften garantiert? Ist das das Vermächtnis einer WM? Ich glaube kaum.
Jetzt wird manch einer sagen: und was macht die FIFA. Richtig, die FIFA sollte sich
auch an dem Vermächtnis beteiligen und zwar nicht nur mit
Streetsoccer-Turnieren und Antirassismus-Plakaten, sondern mit Investitionen in
Transport, Bildung und Gesundheit in bedürftigen Gegenden. Also nicht in den
reichen Stadtteilen, aus denen die Demonstranten von 2013 waren, sondern in der
Peripherie. Und ich möchte noch ein wichtiges Projekt mit einschließen:
Brasilien braucht unbedingt eine besser ausgebildete und ausgerüstete Polizei.
Das sind langfristige Projekte, die Brasilien
größtenteils selbst in die Hand nehmen muss. Der kurzfristige Gewinn kann nur
ein Imagegewinn sein und dazu braucht man die Hilfe der ausländischen
Journalisten. Sie dürfen nicht nur hysterisch auf bekannten Stereotypen
rumhacken, sondern müssen auch Neues akzeptieren können und darüber kritisch,
aber fair, berichten. Und man muss eben auch die Eigenheiten anderer Länder
akzeptieren und sich darauf einlassen können.
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